Einleitung

Abschluss des Runden Tisches „Kinderverschickung in St. Peter-Ording“

Inhalt

Gemeinsame Abschlusserklärung

Zwischen 1945 und 1990 wurden schätzungsweise über 10 Millionen Kinder und Jugendliche im Rahmen der Gesundheitsfürsorge auf mehrwöchige Kuren „verschickt“. St. Peter-Ording (SPO) zählte mit rund 40 Kurheimen und ca. 325.000 Verschickungen deutschlandweit zu den größten Kinderkurorten. Nachdem die Kinderkuren lange Zeit als Erfolgsgeschichte erzählt wurden, häufen sich seit einigen Jahren Schilderungen erfahrener Gewalt. Zugleich melden sich Verschickungskinder sowie Vertreterinnen und Vertreter des Heimpersonals zu Wort, die positive Erinnerungen an die Kinderkuren haben.
Der Runde Tisch „Kinderverschickung in St. Peter-Ording“, eingerichtet und von der Gemeinde St. Peter-Ording (SPO) aus öffentlichen Mitteln finanziert, hatte von September 2024 bis Juli 2025 Bestand und trat in dieser Zeit planungsgemäß vier Mal zusammen. Seine Gründung geht auf den Wunsch der Heimortgruppe Verschickungskinder SPO zurück, wobei auch ehemaliges Kurheimpersonal Gesprächsbedarf hatte. Bundesweit erstmalig kamen Verschickungskinder mit negativen Erfahrungen, Verschickungskinder mit positiven Erfahrungen, Vertreterinnen und Vertreter des Kurheimpersonals sowie Anwohnende zusammen, um verschiedene Aspekte des Kinderkurwesens untereinander sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der Gemeinde SPO, der Landesregierung Schleswig-Holstein und des Sozialausschusses des Schleswig-Holsteinischen Landestags zu erörtern. Mit diesem multiperspektivischen Ansatz sollten eine differenzierte Betrachtung des sozialmedizinischen Massenphänomens ermöglicht und künftige Handlungsoptionen ausgelotet werden. Diskutiert wurden Schwerpunktthemen in ihrer zeitlichen Abfolge im Verschickungsprozess:

  1. Sitzung: Eingangsstatements; Ausgangssituation: von Herkunft bis An- und Unterkunft;
  2. Sitzung: Kuralltag;
  3. Sitzung: Nach der Kur;
  4. Sitzung: Reflexion und landesweiter Blick: Was folgt? Zudem: Weitung des Blickes auf die Landesebene.

Koordiniert und moderiert wurde das Dialogformat von Dr. Helge-Fabien Hertz, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Der Runde Tisch stellt fest:

  • Anerkennung: Die vielfältigen Leiderfahrungen, die Verschickungskinder in SPO gemacht haben, sind anzuerkennen. Nicht alle sind mit den damaligen pädagogischen und medizinischen Standards erklärbar.
  • Differenzierung: Nicht alle Verschickungskinder haben negative Kurerfahrungen gemacht. Es besteht die Notwendigkeit, zeitlich sowie in Bezug auf die Einrichtungen und die in ihnen tätigen Personen zu differenzieren. Zudem konnten das Elternhaus und das Kindesalter bei der Wahrnehmung der Kur eine Rolle spielen.
  • Forschungsrelevanz: Eine Besonderheit dieses Runden Tisches war die Multiperspektivität, welche den Täter-Opfer-Dualismus aufbrach und der Komplexität und Heterogenität des Themas Rechnung trug. Der einvernehmliche Austausch und die kooperative Rekonstruktion damaliger Vorgänge und Rahmenbedingungen durch bislang oftmals als voneinander tief gespalten dargestellter Gruppen hat sich als sehr produktiv und gewinnbringend erwiesen. Der Dialog fand in einer respekt- und vertrauensvollen Atmosphäre statt, in der kontrovers diskutiert werden konnte, jedoch auch von der eigenen Erfahrung abweichende Erzählungen toleriert und anerkannt wurden. Die kollaborative Entwicklung differenzierter, komplexer Erzählungen förderte neue Erkenntnisse zutage, etwa im Hinblick auf unterschiedliche Einordnungen identischer Situationen (u. a.: „Gewaltmarsch“ für Betroffene vs. „Strandspaziergang“ für andere Verschickungskinder und das Personal), die Möglichkeit der ursprünglich positiven Intention hinter als leidvoll erinnerten Situationen, ebenso wie die einhellige Verurteilung gewaltvoller Praktiken. Die integrative Zusammenführung heterogener Erinnerungen und Perspektiven ermöglichte ein tieferes Verständnis des Gesamtphänomens.
  • Persönliche und gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung: Der Runde Tisch schuf durch Bestätigung und Ergänzung, Widerspruch und Reflexion einen geeigneten Raum für die diskursive Anregung von Verarbeitungsprozessen persönlicher Erfahrungen und Emotionen. Wichtig sein kann hierfür auch der erneute Besuch des ehemaligen Kinderkurheims, wie ihn einige der Einrichtungen ermöglichten. Insgesamt verdeutlichte der Runde Tisch die Ergiebigkeit eines integrativen, versöhnlichen, auf Verständnis, Toleranz und Respekt beruhenden Weges des Umgangs mit dem Thema, bei dem Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Personengruppen nicht über-, sondern miteinander sprachen.
  • Ausblick: Der Runde Tisch hat einen multiperspektivischen Austausch zum Thema Kinderverschickung in SPO angestoßen. Er stellt weiteren Handlungsbedarf fest. Die von der CAU erarbeitete Sonderausstellung „Kinderkurheime in St. Peter-Ording: Orte der Erholung, Orte der Gewalt?“ (Juni 2023–September 2024) soll über eine Multimedia-Station in die Dauerausstellung des Museums Landschaft Eiderstedt überführt werden. Zur Finanzierung wird ein Spendenaufruf im Ort gestartet. Zusätzlich soll eine Erinnerungs- und Informationstafel installiert werden. Beides trägt dazu bei, dass das Thema Verschickungskinder in SPO auch weiterhin präsent bleibt. Weitere bundesweite Forschungen zum Kinderkurwesen, die sich zurzeit in Schleswig-Holstein fast ausschließlich auf SPO beschränken, werden von den Teilnehmenden gefordert. Die Erhebung und Bereitstellung von Basisinformationen zu den ehemaligen Kinderkurheimen im Land und eine interaktive, kartenbasierte Anwendung böten auch für Verschickungskinder einen geeigneten Ausgangspunkt für individuelle Nachforschungen. Eine weitere Forschungsfrage sollte sich darauf richten, welche Lehren aus dem Kinderkurwesen für die Zukunft zu ziehen sind bis hin zum Umgang mit erneuten Heimsituationen traumatisierter Personen. Aufgrund der bundesweiten Dimension des Phänomens fordert der Runde Tisch SPO den Bund auf, gemeinsam mit Verschickungskindern und dem ehemaligen Kurheimpersonal eine Aufarbeitung der Geschehnisse und der damaligen Strukturen anzustoßen

gez. die Teilnehmenden des Runden Tisches

St. Peter-Ording, den 18.07.2025

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